Ist Verliebtheit wirklich nur eine gefährliche Mixtur aus Verlustangst und Hormonrausch? Ist Verliebtheit eine Art Prüfungssituation: Bin ich gut genug?
Gerade lese ich ein Buch einer Kollegin über Bindungsstörungen: Stefanie Stahl, „vom Jein zum Ja!”. Gleich zu Beginn bin ich über ein Kapitel zum Thema Verliebtheit gestolpert.
Anders ausgedrückt, ich habe etwas gefunden, das mich total freut. Und, nebenbei bemerkt, Stephanie Stahl erklärt die Bindungstheorie von Bowlby super verständlich …
Und dann folgen Aussagen, die sich kaum ein Therapeut zu sagen traut.
Das freut mich sehr.
Verliebtheit wird überbewertet
Jahrelang galt ich als Rufer in der Wüste. Ich sage immer: Verliebtheit ist ein Trick der Natur. Damit sich Schüchterne trauen, das andere Geschlecht anzusprechen. Das bedeutet aus Sicht der Hirnforschung jedoch Katastrophales. Einer meiner Lieblingsautoren derzeit ist der Neurobiologe Gerhard Hüther. Ihm zur Folge ist jedes „Sich-Verlieben“ sowohl Projektion als auch Hormonrausch. Somit in keinem Fall eine gute oder ausreichende Voraussetzung für eine stabile Beziehung.
Menschen auf Ecstasy erzählen, dass sie sich auch in einen Laternenpfosten verliebt haben. Genießt den Rausch! Aber bindet euch, wenn ihr normal denken könnt!
Mit einem Pfosten liiert zu sein kann auf Dauer ermüdend sein.
Thema Verliebtheit in einem Buch über Bindungsstörung
„… Verliebtheit ist eine Mischung aus Verlustangst und Hormonrausch und sie birgt ein unheimliches Potenzial zum Selbstbetrug …“, schreibt Stefanie Stahl. Ja!
Sie schreibt, dass Verliebtheit sich auf der körperlichen Ebene genauso anfühlt wie Prüfungsangst. Unser Herz pocht, wir haben ein flaues Gefühl im Magen, feuchte Hände, weiche Knie, fühlen uns innerlich getrieben und haben eingeschränkte Gedanken. So reagieren wir alle übrigens bei starkem Stress. Würde man mit diesen Gefühlen einen Vortrag halten, dann würde man nicht an Verliebtheit denken, sondern an Lampenfieber.
Verliebtheit scheint somit eine Variante von leichter Angst zu sein. Es ist eine Art Prüfungssituation: Bin ich gut genug?
Verliebtheit prüft den eigenen Selbstwert
Wieder könnte ich Stefanie Stahl feiern. Sie schreibt, dass Verliebtsein eine existenzielle Prüfung im Hinblick auf Selbstwert ist. Prüfungsangst und Verliebtsein sind identisch. Sie beschreibt, wie durch diese Gefühle ein scheinbar potenzieller Partner idealisiert wird.
Nachdem die Erfüllung vieler Sehnsüchte in diesen Menschen hineingedeutet wird, beginnt man, den anderen als eine Art selbsterschaffenes Phantom zu jagen.
Der idealisierte Partner kann gar nicht anders, als flüchten. Niemand möchte mit einem Phantom verwechselt werden. Je mehr man flüchtet, umso spannender wird man, umso mehr wird die Projektion des Jägers befeuert …
Mit anderen Worten, Verlieben hat nichts mit dem realen Gegenüber zu tun. Sondern es ist ein interner Vorgang. Genauso wie Prüfungsangst. Der Andere wird idealisiert und das eigene Selbstwertgefühl wird in Frage gestellt.
Natürlich spielen unsere tiefen inneren Prägungen hierbei eine große Rolle. Unsere Glaubenssätze sind uns meistens nicht bewusst, haben jedoch eine enorme Macht über uns. Eine gute Therapie kann hier in kurzer Zeit Berge versetzen.